Heute werden viele Kerzen aufstellen in dem Hamburger Viertel, in dem ich wohne. Ich kann das nur virtuell tun. Bin gerade nicht Zuhause. Es werden Stellen erleuchtet, an denen die Stolpersteine in den Boden eingelassen sind. Auch, wenn es äußerlich nicht klirrt. Innerlich klirrt es immer wieder – nicht nur in dieser Nacht. Noch mehr, noch häufiger seit ich 2008 in Jamaica, Long Island so viele der Holocaust- Überlebenden kennengelernt habe. Mehr dazu
Diese Gesichter habe ich erst beim Betrachten des Bildes gesehen. Als ich die Kamera spontan zückte, war mir noch nicht klar, was mich genau dazu bewegt hat.
Ist es möglich?
Ist es möglich, daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht, wie die Salonmöbel in den Sommerferien?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden worden ist? Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich.
Rainer Maria Rilke
Rilke Projekt Live – Schönherz & Fleer – Paul McCandless – Matthias „Maze“ Leber – Ali Neander – Tommy Baldu – Willy Wagner – Marius Kisauer – Rachel Turner Houk