WIDER das VERGESSEN #WeRemember

Und wieder jährte sich das Geschehen……

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Auch der 20. Januar ist Anlass genug, wider das Vergessen zu agieren. Während ich gestern Abend noch mal den Film „Kein Platz zum Leben“ gesehen habe, wurde ich (auch wieder) ganz still. Und musste an all die Menschen denken, die ich auf der Eröffnung der Ausstellung in Jamaica, NY traf….  Deshalb noch mal der Beitrag……  Vergangenheit ändert sich(eben) nicht. Sie werden so lange leben, bis sie sicher sind, dass ihre Geschichte(n) nicht vergessen sind.

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THE MEMORY PROJECT

Using the power of art, story and media to help people connect and understand our common humanity.

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„Das Warschauer Ghetto wurde durch die SS ab dem 22. Juli 1942 im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“ schrittweise aufgelöst. Die Ghettobewohner wurden in Vernichtungslager geschickt, die meisten von ihnen nach Treblinka. Mit den fortschreitenden Deportationswellen wurden die Ghettos räumlich verkleinert, bis sie schließlich vollständig „liquidiert“ wurden, so der deutsche Sprachgebrauch für den Mord an allen übrigen Gefangenen…“ mehr bei wikipedia.

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Diesen 22.Juli möchte ich zum Anlass nehmen, noch einmal auf das

„Memory Project“ in NYC  von Roz Jacobs und Laurie Weisman hinzuweisen.

Die Begegnung mit Momma J, einer Überlebenden des Warschauer Ghettos, ihre Geschichte, die Zusammenarbeit mit ihrer Tochter Roz Jacobs und Laurie Weisman, all die Bemühungen WIDER DAS VERGESSEN….  für mich unvergesslich!  Wir sollten den Überlebenden zuhören, solange sie noch sprechen – damit DAS nicht in Vergessenheit gerät.

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THE MEMORY PROJECT

Using the power of art, story and media to help people connect and understand our common humanity.

TODAY:

WIDER das VERGESSEN

Roz Jacobs, Laurie Weisman: The Memory Project

Ein Kunst- und Bildungsprojekt WIDER das VERGESSEN.

Geschichte einer Begegnung mit Folgen:

November 2008. Eröffnung der ersten Ausstellung „The Memory Project“ im Raum New York City. Long Island.  Mit Amtrack angereist aus Albany, mit LIRR bis Jamaica weitergefahren, landete ich mit einem Taxi  beim Holocaust Resource Center, Temple Judea of Manhasset, NY 11030. Laurie und Roz lernte ich im August 2008 auf einer Hochzeit von Freunden in Frankreich kennen Diese Freunde hatten mich eingefliegen lassen, um das Geschehen des dreitägigen Festes zu dokumentieren. Am letzten Abend erst, einem warmen Spätsommerabend in der Dordogne, kamen wir länger ins Gespräch. Wir scherzten über jiddische Ausdrücke, suchten nach deutschen Analogien. Der Spaß, den wir so miteinander hatten, zog auch schnell die Kinder an, die sich in der inzwischen kleineren Runde der Hochzeitsgesellschaft noch befanden. Unumgänglich war wohl, herauszuhören, dass sowohl Laurie als auch Roz jüdischen Ursprungs sind. Roz` Mutter, Momma J, spricht jiddisch. Und Laurie hatte es von ihrem Vater gelernt. Und genau so unumgänglich war es, dass wir über deren Herzensprojekt sprachen. The Memory Project. Uns blieb nicht mehr allzuviel Zeit. Als sie hörten, dass ich ab September 2008 wohl regelmäßig meinen Lebensgefährten in den Staaten zu besuchen plante, luden sie mich nach Long Island ein.

Von Neugier getrieben „musste“ ich einfach die Kamera mitnehmen, als ich nach NYC aufbrach. Nun stand ich da. Holocaust Resource Centre. Ein wenig verloren fühlte ich mich ja schon. Das gebe ich zu. Laurie und Roz waren nicht zu finden. Erst nicht. Sie waren beschäftigt. Begrüßen konnten wir uns gerade eben noch. Ich wurde Momma J vorgestellt und den Geschwistern der beiden. Schon waren sie wieder weg. Momma J war aus Florida angereist, die Geschwister der beiden aus Californien und Conneticut. Es herrschte ehrwürdige Stimmung. Meine Kamera zückte ich erst, als die Veranstaltung offiziell begann. So viele alte Menschen, Überlebende des Holocaust, hatte ich an einer Stelle noch nicht getroffen. So viele Lebensgeschichten habe ich sichtbare Falten noch nicht erzählen sehen. Während ich so den Eröffnungsreden lauschte, beobachtete ich die alten und jungen Besucher. Ob die Betagten wohl alle so alt werden, damit sie ihre Geschichten  ihres (Üb)Erlebens des Holocaust noch weitertragen können? Ob sie nicht gehen können, bevor sie nicht sicher sind, dass die Geschichten gehört und überliefert wurden? Der Ausstellungraum barg die gesamte Geschichte des Holocaust. Mitten drin stand noch eine lebensgroße Giraffe aus Pappmachee. Der Giraffen-Orden wird in Amerika Menschen und Vereine verliehen, die „über den Tellerrand schauen“, sich konstruktiv einmischen, sich engagieren, jemanden retten, etc.  Als der Film anlief, gab es keine Nebengespräche mehr. Alle folgten der Geschichte Kalmans. Alle konzentrierten sich so, dass ich den Auslöser meiner Kamera am liebsten auf lautlos gestellt hätte. Wenn es einen solchen Schalter doch nur gegeben hätte! Sie waren aber so vertieft, dass sie es, glaube ich, gar nicht wahrnahmen. Dieses Foto wurde der Renner. das Mädchen erinnerte mich an den Film: Das Mädchen mit dem Perlenohrring. Im Anschluss wurde es um so lebendiger. Die Frauen und Männer herzten sich, sprachen angeregt, wanderten gemeinsam  durch die Ausstellung der gemalten Portraits von Kalman, des im Warschauer Ghetto verlorenen Bruder Momma J`s.

Die Zeit verging wie im Fluge. Gar zu drängen begann sie. Ich musste zurück zur Penn Station, wenn ich den letzten Zug nach Albany noch bekommen wollte. Gestärkt dank koscheren Essens und aufgeladen mit Emotionen zu den Begegnungen trat ich also den Rückweg an.

Tief beeindruckt dachte es mich! Ich wollte gar nicht mehr denken – aber ES dachte mich einfach. Transfer auf deutsche Verhältnisse? Hatte ich nicht gerade im Sommer  Kontakt zu der jüdischen Gemeinde in Kassel bekommen? Bärbel Schäfer ging mir durch den Kopf, das Jüdische Museum in Berlin? Machbar aber erschien mir erstmal nur:  Für die Beiden den Filmtext übersetzen und meine Stimme kostenfrei für eine Vertonung offerieren. Bevor es nicht deutsches Material gibt, brauche ich sowieso nirgends in der Bundesrepublik damit anzutanzen. Lange genug tummele ich mich im Stiftungs- und Projektgeschäft, um zu wissen, dass das so einfach nicht sein würde. Ich sah mich schon Antragsformulare ausfüllen, Evaluationsdesigns entwerfen, absurde Formulierungen niederschreiben, um eine Finanzierung zu stemmen. Und das alles, ohne dafür bezahlt zu werden. Als Freischaffende aber sind mir da natürliche Grenzen gesetzt. Die Ideen waren damit verworfen. Erst mal. Trotzdem dachte es mich weiter.

Seither sind fast zwei Jahre vergangen. Roz und Laurie bestritten in der Zeit zwei weitere Ausstellungen, starteten ein Bildungsprojekt einer Highschool in New York City. Sie haben $100000 für ihre inzwischen gegründete NGO gesammelt. Bevor sie die nicht zusammen hatten, bekamen sie auch nicht die zusätzlichen $100000 von dem Sponsor.  Ein interessantes Modell. Und die Mühe, die es kostet, lohnt sich. Das bindet weiter an die Idee! Kaum hatten sie das erreicht, setzte der Sponsor noch einen oben drauf. Die Summe, die sie in den folgenden drei Monaten noch zusammen bekämen, versprach er zu verdoppeln. Niemand ruhte sich da mehr auf den bereits empfangenen Dollars aus. Die ruhen eh nie!

Mir haben sie das Skript des Filmtestes geschickt. Ich habe mich hier in Deutschlnad daran gemacht, es zu übersetzen. Dank Internet und Email liegt er inzwischen autorisiert vor.  Nun verhandle ich gerade mit Jörg Mackensen von toneworx in Hamburg über die Vertonung der deutschen Fassung.

Als ich Laurie das letzte Mal in New York City besuchte, schnitt sie gerade den Film über das neue Projekt an der Elena Roosevelt Highschool NYC. Was mich an den Aussagen berührt und bewegt hat? Schaut es euch selbst an!

„Wenn es das nicht Projekt nicht gegeben hätte, wüsste ich heute noch nichts über meinen Großvater!“  sagte der einer der Studenten. Welch eine Chance also, sich mit Hilfe von Kunst, Sprache und Dialog die eigenen Wurzeln zu vergegenwärtigen. Und das muss schließlich nicht immer der Holocaust sein.

Von Momma J hör(t)e ich regelmäßig.

Wenn Ihr Momma J  als Überlebende des Holocaut selbst fragen wollt: Sie antwortet euch zu Leben, Liebe, Hoffnung, Jüdischer Küche und Yiddish.

Good Luck!

Und den Projektfilm seht Ihr hoffentlich bald auf Deutsch!   Daraus ist leider nie was geworden.

Erinnerung(en)

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„Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“  Kurt Tucholsky

Das Zitat stand als Postkarte, zumindest solange ich zurückdenken kann, auf dem Regal neben dem Sofa im Wohnzimmer meiner Mutter. Heute wäre sie 85 Jahre alt geworden. Unsere Mutter. Schwer finde ich es, den Tag ohne sie zu begehen – diesen ersten Geburtstag ohne sie. So wie all diese vielen „ersten Male“ in diesem Jahr. Dankbar bin ich, dass ich sie so lange für mich hatte. Vielleicht ist es auch einfach besonders, als Tochter die Mutter zu verlieren. Noch immer, wenn was Außergewöhnliches geschieht, denke ich: Was mache ich denn jetzt? Wen rufe ich denn jetzt zuerst an? Wem erzähle ich zuerst davon? Wirklich bewusst geworden ist mir das an dem Tag, an dem ich die Nachricht von ihrem Tod bekam. Mein erster Impuls war: Mutter anrufen. Tja, und schon stand ich mitten im Dilemma. Sieben Monate ist das her. Es gab schon viele Momente, in denen ich mich gern an sie gewandt hätte. Heute hätten wir uns wahrscheinlich zum Familienessen getroffen. 85 Jahre sind schließlich eine Feier wert. Nun erinnern wir uns feierlich. Jede:r auf ihre und seine Weise.

Das kann man doch keinem erzählen! LOB – Magazin


Danke an Claudia Groth, für die langen Gespräche, für die Offenheit und für die vielen gelassenen Momente, für klare Worte und eine Menge Herz

Danke an Nicole Beste-Fopma, dass sie dieses Interview inzwischen freigegeben und veröffentlicht hat. Viel zu lange habe ich das gar nicht mitbekommen. NUN aber:

Work-Life-Balance – Im Leben mit einem schwer behinderten Kind?

Als der Begriff „Work-Life-Balance“ aufkam, fühlte sich jeder angesprochen. Man half Managern beim Bügeln, Claudia GrothAngestellten bot man Sport, Ernährungstipps, vermittelte Wohnungen, bot Prophylaxe und Raucherentwöhnung in den Firmen an. Sogar Masseure tauchten in der Mittagspause auf. Haushaltshilfen, Fensterputzer, Reinigungen, der Pflegedienst, Betriebskitas: Was die organisatorischen Belange betraf, entpuppten sich Angebote wie diese als gewinnträchtige Dienstleistungen.

 

Was aber machen Mütter, die nicht „einfach nur“ Kinder haben, sondern ein schwerbehindertes Kind versorgen? Welche Chancen haben diese „pflegenden“ Mütter, sich dem Alltag erholsam zu entziehen, der ihnen die anstrengendste Arbeit beschert? Sie werden bescheiden oder kreativ!

Ulla Keienburg unterhielt sich über dieses sensible Thema mit Claudia Groth aus Berlin.

Was denken Sie, wenn Sie den Begriff „Work Life Balance“ hören?
Hm, wörtlich übersetzt heißt es: Gleichgewicht zwischen Arbeit und (Privat-)Leben. So einfach ist es aber leider nicht. Es gibt ja noch weitere Bedingungen, die eine Balance, und damit meine ich vor allem ein persönliches Wohlbefinden, ermöglichen. Mir fallen da z.B. noch Familie, Gesundheit oder soziale Sicherung ein. Und ein Zustand des Gleichgewichts lässt sich nicht nur aus eigener Kraft erreichen, sondern ist auch abhängig von äußeren Faktoren.

Aus welchen Gegebenheiten heraus denken Sie so?
Ich bin Mutter zweier Kinder, eines davon schwerstbehindert und pflegebedürftig. Da ist nicht viel mit „Work Life Balance“. Als Vorsitzende des Kinder Pflege Netzwerk e.V. kenne ich genügend Einzelschicksale, die mich diese Aussage so verallgemeinern lässt.

Wie stufen Sie Ihre persönliche Situation bezüglich „Work Life Balance“ ein?
Meine Tochter hat die Pflegestufe III. Über die anerkannten mehr als sechs Stunden Pflege täglich hinaus benötigt sie eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. An „Work“ im Sinne einer geregelten Arbeit zum Lebensunterhalt und „Life“ im Sinne von Erholung, sozialen Kontakten, Freizeit, Familie usw. ist nicht zu denken.
Die „Balance“ versuche ich nach meinen und den Möglichkeiten der Familie auf anderem Wege zu erreichen. Ich hatte mich die ersten neun Lebensjahre meiner Tochter von meinem erlernten Beruf freistellen lassen und ein Fernstudium abgeschlossen, um freischaffend berufliche Anerkennung und auch Freude zu finden. Freiberuflich deshalb, weil es mir nur mit höchstflexiblen Arbeitszeiten überhaupt möglich ist, meinen Kunden eine qualitativ gute Arbeit abzuliefern. Mittlerweile bin ich in meinen Beruf mit verkürzter Arbeitszeit zurückgekehrt, aber das ist schon „knackig“. Die Nachmittags-Betreuerinnen meiner Tochter sind fest eingeplant, damit ich die vereinbarte Arbeitszeit auch tatsächlich erfüllen kann. Und vom Arbeitgeber ist höchstes Entgegenkommen gefordert, denn irgendwas ist immer: ein Anruf aus der Schule, eine Betreuerin fällt kurzfristig aus, ein Behandlungstermin kann für meine Tochter nur zu einer bestimmten Tageszeit arrangiert werden …
Das weitere Leben wird ebenfalls bestimmt von der Versorgung insbesondere der Tochter, von Arzt- und Therapiebesuchen, Hilfsmittelversorgung – und viel, sehr viel Bürokratie. Das Leben meiner mit einer seltenen chronischen Erkrankung lebenden Tochter muss hier in Deutschland vor allem anderen erst einmal VERWALTET werden. Ein unbeteiligter Dritter kann sich kaum vorstellen, wie viel Lebenszeit es kostet, berechtigte Ansprüche einzufordern und durchzusetzen.
In meiner knappen freien Zeit engagiere ich mich ehrenamtlich im Verein. Das erfordert zwar viel Logistik, befriedigt aber ungemein und trägt so zu meinem persönlichen Gleichgewicht bei.

Was an Ihrer Situation halten Sie dank Ihres Erkenntnisstandes für änderbar?
Ich gehöre ja eher zu der Sorte Menschen, die sehen, was sie vorfinden und dann versuchen, das Beste daraus zu machen. Aber wenn ich mir etwas wünschen könnte, wären es vor allem flexiblere Arbeitszeitmodelle, eine Rentenprämie für pflegende Angehörige, aber auch gesellschaftliche Anerkennung für Pflegende und Mütter, Abbau der Bürokratie und eine Belebung des gesellschaftlichen Solidargedankens. Mit viel Idealismus und Änderungswillen wären die genannten Punkte auch erreichbar.

Was halten Sie für unabänderlich?
Unabänderlich ist in meinem Beispiel eigentlich nur die fehlende Gesundheit meines Kindes. Natürlich bin ich keine Träumerin. Ich sehe auch, dass die anderen Punkte – zumindest kurz- bis mittelfristig – nicht änderbar sein werden. Am ehesten ließen sich noch die Arbeitszeiten flexibilisieren. Das kann auch ein einzelnes Unternehmen für sich allein vorantreiben. Die anderen Themen unterliegen einfach zu vielen unterschiedlichen Interessen.

Was sind Sie bereit, unabhängig vom Staat, schon heute zu tun für die Zeit a) nach dem aktiven Erwerbsleben und b) wenn die Kinder aus dem Haus sind?
Falls ich bis dahin nicht komplett desillusioniert bin, werde ich mich sicher auch weiter ehrenamtlich engagieren und versuchen, die Gesellschaft nach meinen Möglichkeiten mit zu gestalten. Das „Elternsein“ endet ja nicht, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Bei unserer Tochter wird das „Sorgen“ nicht aufhören, nur weil sie in einer Einrichtung lebt. Im Moment fühlt es sich so an, als bestimmten ihre Bedürfnisse für immer mein Leben, unser Leben.

Was erwarten Sie von Ihrem Lebenspartner bezüglich der Kinder, und was erfüllt er davon?
Ich glaube, dass in einer Familienkonstellation wie unserer mit einem schwer kranken Kind eher wieder die alten Rollenbilder greifen. In den meisten Fällen, die ich kenne, übernimmt der Mann die Rolle des Ernährers, die Frau hütet Haus und Kinder. Ich bin unter der Woche allein, da mein Mann bundesweit in Kundenprojekten tätig ist. Ich erwarte von meinem Lebenspartner hauptsächlich die Übernahme der Vaterrolle für beide Kinder in der knappen Zeit, die er zu Hause ist. Bei unserem gesunden Sohn klappt das auch ganz gut. Bei unserer Tochter tut er sich schwerer, weil sie durch ihren Betreuungs- und Pflegebedarf natürlich ungleich mehr Zeit fordert als unser Sohn.
Die Rolle als mein Lebenspartner kommt dabei zugegebenermaßen zu kurz. Da haben wir noch nicht die richtige „Work Life Balance“ gefunden. Aber das lässt sich ja eventuell spätestens nachholen, wenn die Kinder aus dem Haus sind.

Was erwartet er von Ihnen?
Da haben wir nie drüber gesprochen. Jeder hat seine Rolle angenommen und versucht sie bestmöglich auszufüllen.

Sie haben die Rollen nie definiert. Woher stammt Ihrer Meinung nach das Rollenbild, das Sie beide bestmöglich auszufüllen versuchen?
Da sind wir beide Produkte unserer Erziehung und Sozialisation. Und das traditionelle Rollenbild meines Mannes und seiner Familie hat sich durchgesetzt. Letztlich war das Argument des Höherverdienenden ausschlaggebend. Da sind wir sicherlich kein Einzelfall.

Was erwarten Sie vom Staat?
An den Staat habe ich keine großen Erwartungen mehr. Es herrscht das Recht des Stärkeren – und des Informierten. Ich würde behaupten, mich ganz gut in diesem System zurechtzufinden. Daher ist mir um mich und meine Familie nicht bange. Aber um weniger informierte Eltern in ähnlicher Situation und unsere Gesellschaft ist mir bange.

Was erwarten Sie von der Kommune?
In der Kommune hat man noch eher die Chance, auf der menschlichen Ebene etwas zu erreichen oder zu verändern. Natürlich alles in unserem höchstbürokratisch deutschen Rahmen. Und wer mal mit unserem Sozialleistungssystem in Berührung gekommen ist, stellt fest, dass sich der Staat bewusst immer mehr aus seiner Steuerungs- und Gestaltungsfunktion herauszieht und damit die Schwächsten der Gesellschaft in die Obhut anderer übergibt, deren Motive für ihr Engagement nicht immer nur gute sind.

Was erwarten Sie von Ihrem Arbeitgeber und dem Ihres Mannes?
Von meinem Arbeitgeber wünsche ich mir noch mehr Bereitschaft, flexiblere Arbeitszeitmodelle zu entwickeln, die Telearbeit zu ermöglichen oder auch Arbeitnehmer/-innen eine sozialrechtliche Beratung anzubieten. Das Thema „Pflege“ wird allgemein mehr Berufstätige beschäftigen, wenn auch eher in dem Zusammenhang, dass deren Eltern pflege- und hilfsbedürftig werden. Vom Arbeitgeber meines Mannes erwarte ich eigentlich keine Reformen, da mein Mann diese ja gar nicht benötigt und daher auch nicht einfordern würde, weil ich ja den „Joker“ gezogen habe.

Was erwarten Sie von Ihrer Krankenkasse?
Von Krankenkassen sowie von öffentlichen Stellen erwarte ich, dass sie ihrer Auskunfts- und Informationspflicht nachkommen und Anträge mit Augenmaß und fair bearbeiten.

Was erwarten Sie von sich selbst?
Mehr Gelassenheit.

Was verschafft Ihnen denn Gelassenheit?
Oh, wenn ich das wüsste! Wenn meine Tochter einmal für ein paar Tage in der Kurzzeitpflege ist, stelle ich fest, dass mein Zustand schon ein viel gelassenerer ist. Das ist allerdings sehr abhängig von der Betreuungsqualität der Einrichtung und der Haltung, die meinem Kind und uns als Eltern und Familie entgegen gebracht wird. Und da gibt es große Unterschiede. Ich selbst habe das Gefühl, dass eher äußere Umstände zu meiner Gelassenheit beitragen könnten. Da wird´s mit der Gestaltung dann schon schwierig.

Wenn Sie gelassener wären: Was wäre anders?
Die Herausforderungen, die das Leben bereithält, wären dann nicht so dramatisch. Und ich wäre eher „bei mir“. Durch die Pflege und Betreuung meiner Tochter führe ich ja in der Regel ein Leben für zwei. Da verliere ich mich selbst schon mal leicht aus den Augen.

Was hat sich Ihres Erachtens für wen am meisten verändert, seit Ihre Tochter auf der Welt ist?
Für mich hat sich alles verändert. Mein kompletter Lebensweg hat eine Wendung genommen, die er sonst nie genommen hätte. Nicht, dass wir uns da falsch verstehen! Ich bin sehr dankbar für meine Tochter und für die Chancen, die sich dadurch für mich eröffnet haben. Ich hätte z.B. kein zweites Studium absolviert, würde mich wahrscheinlich bis zum heutigen Tage nicht ehrenamtlich engagieren, hätte viele interessante und vor allem starke Menschen nicht kennengelernt und nicht dieselben Kompetenzen erworben, die ich jetzt habe. Aber unsere Tochter verlangt eine ungleich höhere Verantwortung und auch persönliche Einschränkung von mir als ein gesundes Kind. Bei ihr geht es mitunter täglich um lebenswichtige Entscheidungen. Zeit ist so kostbar! Und ich bin beruflich sehr eingeschränkt. Sie ist für mich also zum lebensbestimmenden Faktor geworden, im positiven wie im negativen Sinne.
Unser Sohn hat im Alter von drei Jahren eine sehr besondere Schwester bekommen. Er ist ernster, selbstständiger und vernünftiger als andere Kinder in seinem Alter, hat einen ganz wunderbaren Humor und ist sehr selbstbewusst. Er kann sein Leben weitestgehend so leben wie er es auch mit einer gesunden Schwester hätte leben können, da ich versuche, ihn weitestgehend von einer Verantwortung für seine Schwester zu entbinden. Ich bin sehr stolz auf ihn.

Für meinen Mann hat sich verändert, dass ich als seine Lebenspartnerin weitestgehend ausfalle. Beruflich ist er seinen Weg gegangen und geht ihn weiter. Privat wuppe ich auch den restlichen Laden, da er nur an den Wochenenden da ist.

Wieso klingen Ihre Aussagen so unglaublich moderat? Wieso wirkt alles so aushaltbar oder machbar?
Da sagen Sie was. Das, was wirklich abgeht, kann man niemandem erzählen. Oft denke ich: Wenn ich die Umwelt mit der vollen Wahrheit konfrontieren würde, wären alle total überfordert, weil die sich das gar nicht vorstellen können – und ich selbst stehe als hysterische Zicke da. Das liegt so außerhalb der Phantasie der Menschen, die die Situation nicht nachvollziehen können. Zu oft werden wir, und ich darf aufgrund der Erfahrungen im Kinderpflegenetzwerk von WIR sprechen – verletzt, gedemütigt und durch Ignoranz oder Formalia gekränkt. Deshalb erwarten wir auch nicht viel.

Wie ist es denn im Kreise der betroffenen Familien?
Was mir lange nicht klar war: Es gibt eine Hierarchie der Behinderungen. Die schwerstmehrfachbehinderten Menschen kommen dabei am schlechtesten weg. Die Gesetzeslage fördert das leider auch noch. Was ich z.B. nie erwartet hätte: Unter Müttern behinderter Kinder gibt es eine fast komisch anmutende Konkurrenz. Während sich andere Mütter auf dem Spielplatz, in Pekip-Gruppen oder im Gebärdensprachkurs für Untereinjährige gegenseitig über die Erfolge der Kinder definieren, spielen die Mütter behinderter Kinder oft das Spiel: „Wem geht es schlechter?“ Und einige versuchen dann noch, so zu tun, als wenn sie das alles viel besser schaffen als man selbst. Das ist ermüdend.

Was ist Ihr Traum?
Mein ganz persönlicher Traum ist eine Art Kinderhotel, in das Eltern ihre pflegebedürftigen, aber auch gesunden Kinder für eine kurze Zeit von ein paar Tagen oder einigen Wochen geben könnten. Wenn ich z.B. wegen einer Krankheit oder eines Unfalls ausfallen würde, hätte ich keinen Ort, an dem ich meine Kinder unter der Woche gut versorgt wüsste. Zumindest, was unsere Tochter betrifft, können die Großeltern keine Versorgung leisten, die über ein paar Stunden hinausgeht. Mit dem richtigen Betreuungskonzept könnte mir so eine Einrichtung helfen, etwas gelassener durchs Leben zu gehen.

Was täten Sie am liebsten JETZT?
Meine Rolle einmal für ein paar Wochen an den Nagel hängen , auf eine einsame Insel entschwinden und mit mir Urlaub machen. Und diesen Zustand dann so lange wie möglich in den normalen Alltag hinüber retten.

Vielen Dank für das Gespräch.

LOB Magazin

LOB-Magazin.de – Beruf, Familie, Pflege – Für berufstätige Mütter und Väter – Das kann man doch keinem erzählen!