Deutschland wird gerade befragt. Wenn auch auf diskussionswürdige Weise. „Deutschland will es wissen“ heißt es in der Headline der Umfrage. WER ist in diesem Fall „Deutschland“ und vor allem WOZU wollen sie die konfektionierten Antworten? Nicht mal ein „anderes“ oder „sonstiges“ oder gar ein leeres Feld, in dem ich meine eigene Idee hätte kundtun können – nur ein „Ich weiß nicht“ stand als Alternative, wenn ich mich mit nichts von dem befassen wollte, was sie mir dort anboten.
Dann kam mir in den Sinn, dass ich 2007 dazu zwei Menschen persönlich befragte. An sich sollten es zwei getrennte Texte werden. Allerdings:
Edelstein und Pokern – Zwei Stühle, eine Meinung!
Selbstwirksamkeit als Voraussetzung für Engagement
Ulla Keienburg

Umgezogen war sie in eine neue Stadt. Deshalb stimmte die Adresse nicht mehr, unter der sie hätte erreichbar sein sollen. Mona Pokern , einzige Tochter einer alleinerziehenden Mutter, ist jetzt in Hildesheim und besucht dort die dritte Schule ihres Lebens. Nachdem sie ihre ersten zehn Schuljahre an einer Gesamtschule verbracht und ihre Fachhochschulreife erworben hatte, hatte sie nicht mehr viel Hoffnung, dass sie in einer Institution wie der staatlichen Schule Wissen so erwerben könnte, dass es ihr für ihren Alltag wirklich nützt. Hatte sie Schule doch jahrelang so erlebt, als wenn die Lehrer bestimmten, was sie an Wissen zu lernen hatte.
„Es war eher fremdbestimmt, und ich wusste ehrlich gesagt nie so richtig, wofür diese Zahlen, Texte und Fakten gut sein könnten, die ich dort auswendig lernen und begreifen sollte. Ich habe sie fast nur mit dem Ziel gelernt, sie in einem Test oder in einer Arbeit wieder abfragen zu lassen. Gute Zensuren waren das Ziel.“ Mona Pokern ist Mitglied im Jugendbeirat des Projektes „mitWirkung“ der Bertelsmann Stiftung, und das auch deswegen, weil sie sich bereits mit zwölf Jahren für soziales Engagement entschieden hatte und im Kinderwaldprojekt Hannover aktiv wurde.
„Nein, das hatte nichts mit der Schule zu tun. Ich führte eine Art Doppelleben. Während unserer Pubertät fanden meine Mitschüler ehrenamtliche Arbeit eher uncool, also hing ich mit denen ab. An der Schule konnte uns zu der Zeit nichts so richtig motivieren. Die Lehrer planten zwar Projekte mit uns, aber realisieren sollten wir sie dann allein und in unserer Freizeit. Und so verliefen viele Ideen im Sand. Sie schienen aber nicht bereit, ihren Unterricht dafür „opfern“ zu wollen. Oft hatten wir den Eindruck, dass es ihnen eigentlich zu viel Arbeit war, mit uns gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen.“
Verstanden hat sie die Lehrer und auch das Korsett der Schulordnung – aber nicht immer gut ausgehalten. „Warum“, fragt sie sich, „konnten wir nicht im Deutschunterricht die Texte für einen Flyer produzieren, oder in Mathe die Kalkulation am Beispiel des Kinderwaldprojektes lernen? Wir haben sogar Computerunterricht gehabt und hätten dort eine Webseite für das Projekt herstellen können. Ich hätte üben können, wie man präsentiert, ich hätte gern die Hilfe eines Lehrers gehabt, wenn es um das Argumentieren geht oder gern mal vor Mitschülern ausprobiert, wie das wirkt, wenn ich beim Amt für das Projekt um Geld bitte.“ Das wichtigste Handwerk habe sie wohl bei der Moderationsausbildung „Kidfit“ (Deutsches Kinderhilfswerk) und bei „mitWirkung“ gelernt. „Im Kinderwald konnten wir damit das Projekt weiterentwickeln und auch sichern, haben sogar Zukunftswerkstätten selbst moderiert und durchgeführt.“ Aber rückblickend sei es wohl ihre Mutter, die ihr das Rüstzeug dafür vermittelt habe. Etwas nicht Messbares, aber sehr Wirksames. Ihre Mutter hat ihr vertraut, und sie ist dankbar dafür, dass sie ihr nicht nur die Unterschriften gab, die sie brauchte, sondern ihr auch Mut zusprach und sie einfach hat machen lassen. „In der Schule haben sie mich zwar auch freigestellt, aber sie haben sich nie wirklich für das interessiert, was ich da eigentlich tue. Der Unterricht musste laufen und die Lehrpläne und die Schulordnung eingehalten werden.“ Sie fragt sich selbst, wieso eine Schulordnung nicht hergibt, dass Lehrer mehr zusammenarbeiten, sich absprechen und mal etwas von außen, auch außerhalb einer Projektwoche, zum Unterrichtsinhalt erklären können. „Dann hätte ich mehr Lust gehabt, noch mehr zu lernen.“
Nach ihrer Fachhochschulreife arbeitete sie ein Jahr lang in einer Behindertenwohngruppe in Luxemburg, probierte sich aus, war in der Verantwortung und entschied sich in dieser Zeit für den Beruf der Ergotherapeutin. Das bedeutete auch: Umzug nach Hildesheim. Sie packte ihre Sachen, richtete sich ihren eigenen Haushalt ein und ist verwundert darüber, dass viele ihrer jetzigen Mitschüler nicht einmal eine Lampe angebracht bekommen, ohne nach ihren Eltern zu rufen. „Wahrscheinlich haben die Eltern denen alles abgenommen, und die konnten gar nicht lernen, sich allein zurechtzufinden, Konflikte zu lösen oder mit Stress oder Frust umzugehen. Die wünschen sich auch häufiger mal den Frontalunterricht zurück. Da konnte man sich so prima raushalten aus dem Unterricht, ohne dass es auffiel. Das geht an unserer neuen Schule nicht mehr. Hier sind lauter engagierte Lehrer, die uns in Gruppen erarbeiten lassen, was wir lernen müssen. Das ist viel effektiver und viel anstrengender, wie ich abends feststellen muss. Aber es macht einfach mehr Spaß. Denn so behalte ich die Sachen, und ich weiß, ich mache es für mich, mit anderen zusammen, und nicht für die Lehrer. Und diese Lehrer haben offensichtlich nicht nur gelernt, was auch wir wissen müssen, sondern sie haben auch noch die Methoden, wie sie es gut bei uns anbringen können.“
Mona Pokern spricht aus Erfahrung – es wäre sicherlich spannend gewesen, wenn sie das Gespräch mit Prof. Dr. Wolfgang Edelstein geführt hätte. Er hat alles, was sie als Wunsch und Wirkung beschreibt, während seiner langen Laufbahn in verschiedenen Ländern und deren Bildungssystemen beobachten und wissenschaftlich nachweisen können.

Es trennen sie 58 Jahre Lebenserfahrung, es trennen sie Lebenswelten, aber sie eint das Motiv ihres Handelns – die Demokratie, die Partizipation –, „nicht nur verstanden als repräsentative Beteiligung an der Verwaltung von Schule –, sondern auch als Gesellschafts- und Lebensform. Unter dieser Prämisse müsste Schule Schüler in allen Bereichen an der Gestaltung der gemeinsamen Lebenswelt Schule beteiligen, der Welt des sozialen Lebens wie der Welt des Unterrichts. In den vorbildlichen nordischen Ländern gelingt Schule deshalb so anders, weil dort das Kerngeschäft der Institution Schule nicht, wie in Deutschland, der Unterricht ist, sondern das Lernen der Schüler“.
Den Unterschied kann Wolfgang Edelstein deshalb so konkret formulieren, weil er schon zwischen 1954 und 1963 als Lehrer und später als Studienleiter das mit entwickeln konnte, was er heute „die erste deutsche Gesamtschule“ nennt. Und weil er z.B. in Island die Schulreform begleitet hat. In Island hatte der gebürtige Jude schon seine Jugend verbracht. Der emeritierte Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin bleibt aktiv. „Wissen kann man sich besser handlungsorientiert aneignen.“ Er handelt noch immer nach dieser Maxime, auch für die „Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik“, die er mit engagierten Bildungsverantwortlichen gründete.
„Das Engagement von Schülern entsteht von ganz allein, wenn sie ihre Selbstwirksamkeit erleben, Selbstwirksamkeit im Sinne einer optimistischen Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit. Ganz von innen kommen dann das Bedürfnis und der Mut, Verantwortung zu übernehmen. Sie schauen dann von selbst über den Tellerrand von Schule hinaus. Dafür brauchen sie Vorbilder, und sie wollen geführt werden – und das ist die Aufgabe der Lehrer im System – sie müssen die Initiatoren von kooperativem Lernen sein.“ Um das hinzubekommen, sollen sie sich Verbündete suchen, denn allein ändert kein Lehrer etwas. „Es gibt die ,erweckten Pädagogen’, keine Frage – noch sind sie Einzelgänger. Könnten sich Schulleiter heute die Lehrer aussuchen, mit denen sie eine solche ,Community’ bilden könnten, sähe die Schulrealität wohl anders aus.“
Wolfgang Edelstein ist erfahren und zuversichtlich. Er verweist z. B. auf die Arbeit der Yehudi Menuhin-Stiftung und auf die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. „Dort wird Lehrern der Prozess der Demokratisierung zugetraut und anvertraut – und dort lernen Lehrer, gemeinsam mit den Schülern ,demokratisches Lernen’ zu praktizieren.“
Die Frage war eigentlich, was Schule tun kann, damit Schüler sich engagieren. Heraus kam, dass die Wirkung des Systems Schule (noch) nicht so ist, dass Schüler ihre Selbstwirksamkeit erleben und sie aus dieser Erfahrung heraus selbst Initiative ergreifen. Mona Pokern kennt die Wirkung dessen, was sie ist, was sie tut und wie sie daraus lernt. Und Wolfgang Edelstein gibt keine Ruhe, „Orte sinnerfüllten Lernens und Handelns“ zu schaffen.
Tel.: +493028045134
erschienen im „podium schule 2/2007“ bertelsmann stiftung
Hat dies auf Ulla Keienburg s Blog rebloggt und kommentierte:
Anlässlich des Todes von Wolfgang Edelstein am 29.2.20 hole ich diesen Beitrag gern noch mal „nach oben“. Ich danke sehr für die Begegnung mit diesem steten, unermüdlichen, kraftvollen, erfahrenen, weisen und echten Menschen. Dem Mahner. Ein echter Dialog war mit ihm möglich. Möge er weiter wirken: sein demokratischer Geist.
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